Hintergrund Mit dem Blick von heute Wie entstand die Idee, einen Kinofilm über Allende zu machen? Der Stoff hat sich uns während der Recherche zu einer TV-Dokumentation,
die eine Chronik der Regierungszeit Allendes liefern sollte und für ARTE/BR
und einige andere ARD-Anstalten produziert wurde, in gewisser Weise ‚aufgezwungen’.
Ich stieß zunächst auf Osvaldo Puccio, was nicht verwunderlich war,
da er eine sehr bekannte Persönlichkeit im heutigen Chile ist. Über
ihn kam ich zu Juan Osses, dann zu Isidro Garcia. Nach und nach gruppierte sich um uns die
Personnage, die letzten Zeugen dieses grausamen, dramatischen Finales vom 11.
September 1973. Nachdem die Beteiligten von damals uns und unser Interesse
akzeptiert hatten, nämlich über diese Ausnahmesituation der ‚letzten
Stunden’ vor einem fast sicheren Tod zu erzählen, ergaben sich durch
Empfehlungen die weiteren Ansprechpartner wie von selbst. War es schwer, die Protagonisten Ihres Films davon zu überzeugen, aus der Distanz von 30 Jahren vor der Kamera über die damaligen Ereignisse zu erzählen? Die Bereitschaft zu erzählen war unterschiedlich. Juan Osses z.B. wollte
und hat sehr viel erzählt, weil die Geschichte jenseits der Mythenbildung
bisher kaum erzählt wurde: also die existentielle Seite dieses Dramas
auf Seite derer, die bereit waren, für ihre Vision oder für Allende
zu sterben. Andere wie Carlos Jorquera, der z.B. die letzte Rede Allendes direkt
neben ihm miterlebt hat, waren zunächst eher spröde und skeptisch.
Zum einen, weil diese Zeit und dieser dramatische Ausgang ihr Leben war und
bis heute ist und sie das nicht ohne weiteres Außenstehenden preisgeben.
Zum anderen auch aus einem gewissen Mißtrauen heraus, aus der Befürchtung,
dass man z.B. den Selbstmord Allendes als Vorwand nehmen könne, um die
Gewalt des Putsches heute zu relativieren. Es verwundert, mit welcher Offenheit der ehemalige Vertreter von Patria y Libertad über die damaligen, offensichtlich terroristischen Aktivitäten seiner früheren Organisation spricht. Es war tatsächlich nicht einfach, jemanden von Patria y Libertad zu finden. Diese Leute haben Attentate und Sabotage verübt und wurden von der CIA und den Rechtsparteien finanziert. Schließlich sind wir auf Roberto Thieme gestoßen, den damaligen zweiten Mann von Patria y Libertad, der später zum Dissidenten wurde und selbst ins Exil musste. Er war bereit, offen und direkt Auskunft zu geben – bis auf die eine Ausnahme, nämlich inwieweit er selbst in Mordanschläge damals verwickelt war. Mit welchen dramaturgischen Überlegungen sind Sie an den Stoff gegangen? Wir wollten einen Film von heute aus machen, für ein Publikum von heute,
das die Geschichte von 1973 nicht unbedingt aus eigener Erfahrung kennt. Wir
wollten nicht den soundsovielten historischen Film über Allende machen.
Was mich bewegt und fasziniert hat, war erstens der Rebell Allende, zweitens
der Moralist Allende und schließlich diese existentielle Entscheidung
der letzten Stunden, der einfache und gnadenlos konsequente Satz: „Allende
ergibt sich nicht, Scheiße.“ Für mich sind alle emotionalen
und menschlichen Abgründe in dieser Person enthalten, und deswegen bewegt
sie mich heute. Weniger als historische Persönlichkeit, sondern als Mensch,
der gegen seine Zeit rebelliert. Aus dieser Perspektive sollte der Film erzählt
werden. Auf den ersten Blick überrascht die Musikauswahl Ihres Films, Bésame mucho statt El pueblo unido... Es war für uns grundsätzlich wichtig, nach dramaturgisch-emotionalen
Kriterien von heute zu entscheiden, statt eine getreue historische Rekonstruktion
im Auge zu haben. Die Musikauswahl z.B. ist dem Land und der Epoche nicht fremd,
aber einzig nach emotionalen Punkten ausgewählt: Stolz und Rebellion,
wie im Lied von Mercedes Sosa. Als wir mit Carlos Jorquera und Rafael Gonzáles
im Restaurant waren, kam durch Zufall ein Gitarrist und spielte Bésame
mucho. Die beiden unterbrachen ihr Gespräch und sangen mit. Es war ein
ganz eindeutiges Gefühl: diese Melancholie, die auch viel Schönes
hat, entspricht ihrer Stimmung, ist ihnen sehr nah. Von dem Moment an haben
wir dieses Lied als Leitmotiv genommen. Später haben wir den Gitarristen
ausfindig gemacht und sind mit ihm in Santiago noch ins Studio gegangen. Die
komponierte Musik von Wolfgang Loos ist von diesen Vorgaben abgeleitet, Spannung
und Gefühl weiterzutragen und zu unterstützen. Sie haben Material aus verschiedenen Archiven genutzt, einiges davon noch unveröffentlicht. Wie sind Sie an diese Aufnahmen gekommen? Wir haben tatsächlich sehr unterschiedliche Quellen recherchiert: die ehemaligen DDR-Archive, die der ARD, kanadische Produktionen und Material aus der ehemaligen CSSR. In Chile selbst haben wir weitere Aufnahmen recherchiert, die noch nie gezeigt wurden, die in Privatarchiven, beim chilenischen Fernsehen oder bei Universitäten lagen. Zur Materiallage muss man wissen, daß noch in der Nacht des 11. September Soldaten im Auftrag Pinochets die liberalen und linken Medien stürmten und in den Archiven alles zu vernichten suchten, was mit der Allende-Zeit zu tun hat. Es sollten keine Bilder und keine Erinnerungen an diese Zeit überleben. Was fasziniert Sie an der Konstellation des 11. September 1973? Vom Moment seiner Wahl an war Allende der David im Kampf gegen Goliath. Er hatte lange viel Glück und auch die Fähigkeit, in diesem ungleichen Kampf zu bestehen. Aber zum Schluß stand er in einer fast Shakespeareschen Situation sehr allein, auch wenn eine Woche vor dem Putsch mehr als 1 Million Menschen auf den Straßen von Santiago de Chile für ihn demonstrierten. Der Goliath, das waren immer die USA, die, was man nicht vergessen darf, alle opportunen Mittel einschließlich Attentaten und Mord billigten, um Allende zu verhindern. Dieser Aspekt gibt in unserem Film den Hintergrund ab für den Moment einer menschlichen Ausnahmesituation, in der so etwas wie Archetypen deutlich werden: Der Rebell gegen seine Zeit; der Glaube, dass es etwas gibt, was wichtiger ist als das eigene Überleben; der Glaube, dass Gerechtigkeit etwas ist, was mehr ist als die eigene Existenz; der Glaube an das Glück; die Kraft, dafür einen hohen Preis bezahlen zu können... Man kann das auch Würde nennen. Hatten Allende und der “chilenische Weg” eine Chance? Allende hatte eine Chance, sonst wäre er heute nicht mehr populär – die
Geschichte überliefert keine vollkommenen Verlierer. Aber wie in einer
schier aussichtslosen Liebe hat er viel Glück gebraucht, und das kann
man nicht allein beeinflussen. Allendes Revolte war eine, die auch die Möglichkeit
des Scheiterns mitdachte. Im Sinne von Camus war Allende ein Sisyphos, ein
Mensch in der Revolte, zutiefst von der Würde des Menschen überzeugt;
ein Mensch, der das Leben über alles liebte, was Würde und Freiheit
mit einschließt. Dafür war er bereit, mit seinem Leben einzustehen. Michael Trabitzsch Geboren 1954 in Neumünster. Studium der Literatur und Philosophie in Göttingen und Berlin, anschliessend Promotion. Freiberufliche Tätigkeit als Journalist und Buchautor, Arbeiten für den Hörfunk, Regieassistenz und Produktionsleitung für Harun Farocki. 1990-92 Industrie- und Werbefilme. Seit 1992 freie Fernseh- und Hörfunkproduktionen; Gründung der Firma Prounen Filmproduktion. Filmographie (Auswahl)
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